Diskussionsnachricht 000029
20.09.2012, 15:01 Uhr
Stefan P. Wolf
Forumsgründer
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Zum letzten Satz:
Zitat: | Also werden Rasiermesser nur mit einer Grundschärfe ausgeliefert,- mit Ausnahme von einigen speziellen Manufakturen und der Rest ist "Liebhaberei", aber grundsätzlich ist eine vernünftige Rasur möglich ?
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Eindeutig JA zum "nur Grundschärfe" und JA zur möglichen vernünftigen
Rasur, wenn man es nicht stumpfer ledert, als es ist.
Und zur Ausnahme: ich kenne in Europa (den amerikanischen RM-Markt
verfolge ich nur wenig) KEINE spezielle Manufaktur und KEINEN vor
Versand selbst nachschärfenden Händler, die sich mit besonders guter
Auslieferungsschärfe einen entsprechenden Ruf in der Rasurgemeinde
gemacht haben. Forumsschärfer ja, aber keine Hersteller und keine
Händler, hat jemand sowas schon gelesen? Erwarte ich persönlich auch
nicht, weil ich den Aufwand kenne. Steht in keinem Verhältnis zur
Fertigung. Meinst Du, neben deren Bankstein steht ein Mikroskop?
Wer als Händler vor Versand nachschärft, tut dies vielleicht auf den
oft geäußerten Kundenwunsch, weil die alle durch die von mir kriti-
sierten Nacherzählungsthreads hier und anderswo davon ausgehen, dass
die Hersteller nicht rasurscharf ausliefern. Ob es danach schärfer ist
als Grundschärfe (mehr verspricht man ja nicht) oder es eine wirksame
Auffrischung länger gelagerter Messer ist oder schlicht die Voraus-
setzung dafür, dass man überhaupt eine Aussage treffen kann und nicht
schreiben muss "der Hersteller sagt...", sei dahingestellt. Liebhaber-
schärfe: sicher nicht und wirklich zu viel verlangt.
Auch die Tradition (u.a. in Solingen) muss man kennen, um einige Dinge
zu verstehen. Zum Beispiel, dass das Rasiermesser traditionell (und das
bleibt in dem Handwerk erhalten) ein Massen-Gebrauchsartikel war und
hoffentlich wieder wird. Nahezu NIEMALS wurden Rasiermesser speziell
für Sammler, oberpedantische Extremqualitätsfanatiker und Haptik-
Anbeter gemacht. Vielleicht 'mal für einen Adeligen oder sowas, aber
das Rasiermesser ist schlicht ein WERKZEUG für diese Branche, wie ein
Schraubenzieher oder eine Axt. Je nach Geldbeutel ein wenig teurere
Materialien und evtl. (schon widerwilliger) Verzierungen. Erst langsam
entsteht eine Custom-Kultur (mehr von den Hobby-Bastlern ausgehend denn
von Leuten, die es gelernt haben) -- und das viele Jahrzehnte, nachdem
diese Szene von Einzelanfertigungen und Sammlerstücken bei sonstigen
Messern völlig selbstverständlich ist. Jede Messermacher-Messe zeigt
unzählige Messer, die maximal perfekt in Ausführung, Finish und auch
Schärfe sind, obwohl die nur in der Vitrine liegen werden. Das gibt
es (noch) nicht bei Rasiermessern. Du kaufst ein Werkzeug zur Rasur.
Da kommen wir dann zum Thema Qualitätskontrolle in Manufakturen. Jeder
Uneingeweihte fragt sich: wie konnte das Messer von diesem Messermacher
denn *so* in den Versand gehen. Ein Kratzer! Eine schiefe Niete! Und
XYZ (was auch immer)!. Sowas passiert ja nichtmal "Massenhersteller"
DOVO! Jaaaa, warum nur? Erstens ist Serienfertigung rationeller. Das
bedeutet, dass man mehr Ausschuss nacharbeiten oder wegwerfen kann.
Muss man aber meist gar nicht, denn wenn einer nur Messer aus Rohlingen
schleift und einer nur Griffe nietet und einer nur schärft, dann machen
die weniger Fehler als eine Einzelperson, die alles nacheinander macht
und viel weniger Routine entwickelt (es sei denn, die Person nimmt sich
STUNDENLANG Zeit). Irgendwann verlernt man schlicht, Nieten schief zu
setzen. Auch ist ein Serienprodukt mit einem kleinen Kratzer noch kein
Ausschuss, damit muss man leben. Ausschuss in der Manufaktur hingegen
ist richtig teuer und daher tunlichst zu vermeiden. Stellt man das spät
in der Produktion fest, kann man das fast fertige Messer (oder was auch
immer man herstellt) nicht einfach wegwerfen. Das kollidiert aber nun
mit dem Anspruch des Kunden/Sammlers, dort etwas Perfektes zu bekommen.
Und da sind wir beim Widerspruch -- einzelgefertigte Rasiermesser
sind eben noch nicht auf Custom-Messer-Niveau. Sie kosten aber auch
keine 1000 oder 3000 oder 5000 Euro wie einige Einzelstücke bekannter
Messermacher. Sie kosten 150 oder 200 oder 300 Euro. Also gehen die
Messer auch mit kleinen Makeln 'raus. Nicht zuletzt, weil die alten
Handwerksmeister das immer noch als Werkzeug sehen, nur jetzt ein
extrahübsches Werkzeug für Bekloppte mit Geld. Die begreifen im Leben
nicht, dass jemand sich beim Anbeten des Messers an einer schiefen
Niete stört, statt das Ding kurzerhand selbst zu entnieten und die
Niete neu zu setzen. Wenn man dann noch meckert, das Messer ist nicht
scharf genug, dann sagen die sich zu Recht: mach's doch besser! Die
Custom-Messermacher sind Leute, die oft ganz etwas anderes gelernt
haben, Messer lieben und KÜNSTLER sind, Kunstschmiede und Kunsthand-
werker. Die Rasiermessermacher sind Handwerker, Akkordschleifer,
Malocher vom alten Schlag. Schonmal ein Video auf Youtube gesehen?
Die Kotten sehen nicht anders aus als eine Schusterwerkstatt. Da
wird gearbeitet. Eine Messermacherwerkstatt für Custom-Knives sieht
aus wie ein OP-Saal, aufgeräumt und sauber. Wer 100 Stunden in ein
einziges Messer steckt, ist analfixiert genug, täglich die Werkbank
zu polieren und malt Werkzeugumrisse an die Wand, damit alles so
hübsch nebeneinander hängt. Zwei Welten, zwei Auffassungen von "gut
genug für den Kunden". Beruf und Berufung. Produkt oder Kunst.
Was wollte ich sagen? Alles 'mal ein wenig in Relation und viel
lockerer sehen. Nicht erwarten, dass das Messer für 150 Euro perfekt
ist, wo man für das gleiche Geld ein technisch viel weniger anspruchs-
volles Serien-Küchenmesser akzeptabel findet oder maximal dreimal
mit der Liebsten mittelprächtig Essen gehen kann. Und bevor wegen
dieses unerfüllbaren Anspruchs alle Messer viel teurer werden und
nie in ausreichende Menge in den Handel kommen: den Traum vom 800Euro-
Messer mit perfekter Verarbeitung und Maximalschärfe aufgeben und zum
das zum jetzigen Preis kaufen, was da ist, dann zu einem analfixierten
Schärfer wie Bartisto (hi Gerhard, ist lieb gemeint ) senden und man
hat sich fruchtlose Diskussionen und mehrere hundert Euro gespart.
Gruß, Stefan.
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