Diskussionsnachricht 000175
16.02.2019, 07:10 Uhr
CaptainGreybeard
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@Barbon: Sehr richtig! Das ist, was ich und andere hier ebenfalls schon geschrieben hatten und was hier leider vor allem von einem gewissen Herrn mit dem Hinweis auf die eine (von mir aus auch auf die zwei oder drei) Ausnahme(n) grundsätzlich in Abrede gestellt wurde, nämlich dass auch damals in den 1970ern und frühen 1980ern die Mehrheit der sich schon lange nass rasierenden Männer froh waren, dass sie vom Hobel wegkamen.
Die empfanden die neuen Systeme, ob ohne oder später auch mit Schwingkopf als Erleichterung, u. a. auch bei der Sicherheit vor Verletzungen und vor allem als Zeitersparnis nach dem Aufstehen/vor dem Weg zur Arbeit. Die meisten Hobel dürften damals sehr rasch in den Krimskrams-Schubladen und nicht allzu viel später in den Mülleimern gelandet sein.
Es waren also durchaus nicht die Teenies, die den damals neuen Systemen zum Durchbruch verhalfen. Die wuchsen zwar mit den neuen Systemrasierern auf, aber vor allem deshalb, weil "die alten Herren" es ihnen eben genauso vormachten: Rasierschaum/-gel aus der Dose ins angefeuchtete Gesicht schmieren, Systemrasierer in die Hand nehmen und ruckzuck war Mann glatt rasiert. Kein Pinsel, kein mühseliges und zeitaufwändiges Schaumschlagen, keine stundenlangen Vorbereitungsorgien und trotzdem mit glattem und unverletzten Gesicht aus dem Haus - das empfanden hauptsächlich diejenigen als Erleichterung, die morgens früh zur Arbeit mussten. Und daran hat sich bis heute bei der überwältigenden Mehrheit der sich nass rasierenden Männer wenig geändert. Die Systeme wurden weiterentwickelt, und das nicht unbedingt zum Schlechteren, wie ich finde, denn sie rasieren heutzutage im Vergleich zu den ersten Systemen mit starrer Doppelklinge sicherer und trotzdem gründlicher, wenn man nur einen Durchgang rasiert, die Klingen sind zwar teurer, halten dafür aber auch deutlich länger. Als jemand, der vom ersten Gillette GII und Wilkinson Duplo II, Contact und Kompakt Design über den Gillette Sensor, Sensor Excel, Mach 3 bis zum Fusion jeden gängigen Systemrasierer verwendet hat, erlaube ich mir, dies so zu beurteilen.
PS: Der Siegeszug der Rasierhobel nach 1918 hatte seinen Grund, wie du ihn beschrieben hast, das ist auch soweit richtig. Allerdings gab es vor allem in Deutschland, später auch in den meisten westlichen Ländern drei Stolpersteine, die den eigentlichen und weltweiten Siegeszug von Gillette auf die Zeit nach 1933, vor allem aber auf die Zeit ab den 1950ern verschoben:
Zum ersten waren damals noch viel mehr Männer in der (schwer)industriellen Produktion tätig, und dort war die Notwendigkeit eines glatt rasierten Gesichts eher nicht gegeben. Zum anderen war auch der Anspruch, den wir heute an eine "glatte Rasur" stellen, ein anderer: Als "glatt" galt eine Rasur damals, wenn sie die sichtbaren Stoppeln weitestgehend entfernte; der heutige, vor allem in Rasurforen propagierte Anspruch an eine Rasur, sie habe "BBS", also glatt wie ein Kinderpopo zu sein, bestand damals nicht. Man rasierte sich auch nicht täglich, es sei denn, man ging einer vergleichsweise gut bezahlten Tätigkeit im Büro nach. Arbeiter, die in der Produktion tätig waren, waren i. d. R. nicht alle sehr gut und glatt rasiert - man muss sich eigentlich nur Fotos aus der damaligen Zeit etwas näher anschauen, dann erkennt man das: Bärte, auch Mehrtagebärte, waren damals eher der Regel- als der Ausnahmefall.
Zum zweiten gab es außer Gillette damals noch etliche konkurrierende Hersteller, die ebenfalls mit Wechselklingen arbeiteten. Vor allem in Europa war Gillette nach dem Ersten Weltkrieg noch nicht sehr verbreitet, denn Gillette war nur ein Anbieter unter diversen, wenn auch damals schon, zumindest in den USA, der größte.
Zum dritten sorgte spätestens die Weltwirtschaftskrise, die ab Oktober 1929 nicht nur die Börsen und Banken, sondern ganze Industrien ins Taumeln brachte, dafür, dass regelmäßiges Rasieren auf der Prioritätenliste der arbeitenden (bzw. der zunehmend eben nicht mehr arbeitenden, sondern arbeitslos gewordenen) Bevölkerung sehr weit nach unten rutschte. Das dürfte wohl auch klar sein, denn wenn man mit wenig (Deutschland, Frankreich), fast gar keiner (England) oder eben überhaupt keiner (USA und die meisten anderen Industrieländer) sozialen Unterstützung seitens des Staates auskommen muss und nicht weiß, wovon man Essen, Kleidung und Miete bezahlen soll, dann werden Rasierklingen, und mögen sie in guten Zeiten auch als billig gelten, eben von der Einkaufsliste gestrichen. Es ist für uns in Wohlstand aufgewachsene und vom Wohlstand verwöhnte Menschen kaum zu glauben, aber es gab tatsächlich Zeiten, da konnte man nicht für den Gegenwert eines Netto-Stundenlohns 100 oder gar 200 Rasierklingen kaufen und sich "einfach mal eben so" auf Lager legen.
Der Siegeszug des Gillette-Hobels, der Gillette auch in Westeuropa eine marktbeherrschende Stellung einbrachte, kam erst nach dem Zweiten Weltkrieg, denn erst mit dem Wiederaufbau hatten die Menschen wieder genug Geld für solche Annehmlichkeiten wie Rasierapparate in den Taschen. Gefahr droht(e) Gillette weniger von Konkurrenten wie Wilkinson, als vielmehr von Firmen wie Remington, Philips und Braun, die ab Mitte der 1950er mit ihren brummenden Elektrorasierern ein neues Rasur-Zeitalter einzuläuten schienen. Allerdings rasieren sich auch heute weniger Männer trocken als nass, und die allermeisten, die sich trocken rasieren, rasieren sich zumindest gelegentlich auch nass, wie man einer Umfrage entnehmen kann, die die Jahre 2014-2018 umfasst. Diese Nachricht wurde am 16.02.2019 um 07:23 Uhr von CaptainGreybeard editiert. |